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Shai-Hulud manifestiert sich in unterschiedlicher Weise. Manchmal ist er sanft und manchmal nicht.
Die Stilgar-Kommentare
Ein verirrter Sandwurm durchbrach die Feuchtigkeitsbarriere, die die Lücke im Schildwall versperrte, und nun suchte sich das tobende Ungeheuer einen Weg durch die schmale Passage. Es stürzte sich auf die armseligen Siedlungen, die um Arrakeen verstreut waren wie Staubkörner, die durch ein löchriges Türsiegel drangen, und pflügte eine Spur der Verwüstung hindurch, wobei es mit seinem monströsen Rachen ganze Häuser verschlang.
Stilgar, der die Notrufe empfing, schnappte sich zwei verlässliche Fedaykin-Soldaten und rannte zur nächsten Landeplattform. Er neigte nicht dazu, angesichts einer Krise allzu lange zu überlegen, aber allein der Gedanke an das Geschehene verwirrte ihn. »Das ergibt keinen Sinn. Der Qanat hätte eine undurchdringliche Wasserbarriere darstellen sollen.«
»Vielleicht sind Sandforellen in den Kanal geraten und haben ihn verstopft, Stil«, sagte der Fedaykin-Pilot, während er ins Fluggerät sprang und die Startvorbereitungssequenz der Rotoren aktivierte. »In Millionenzahl könnten sie die Abdichtung durchbrochen und das Wasser gestohlen haben.«
Stilgar schüttelte den Kopf, während er sich vergewisserte, dass der Thopter wüstenfähig und vollständig mit Fremkit, Seilen und Überlebenswerkzeug ausgestattet war. »Wie konnte es dem Inspektionsteam entgangen sein, wenn der Kanal ausgetrocknet war?« Er hatte bereits den Verdacht, dass die eigentliche Antwort sehr viel unschöner war.
Die Stadt Arrakeen hatte sich in Sicherheit gewähnt. Kein einziger Sandwurm war durchgekommen, in all den Jahren, seit Muad'dib den Schildwall im Laufe seiner Endschlacht gegen Shaddam IV. aufgesprengt hatte.
Aber etwas hatte diesen monströsen Wurm eingelassen. Das konnte kein Unfall gewesen sein.
Hastig kletterte Stilgar ins Cockpit und nahm neben dem Piloten Platz, der die Flügel in Bewegung versetzte, noch während der dritte Mann hinten einstieg. Wenige Augenblicke später stieg der Thopter auf wie ein Raubvogel, der von seiner frisch geschlagenen Beute aufgescheucht wurde.
Sie flogen hoch über den Flickenteppich von Arrakis hinweg, über die hastig errichteten Hütten von Menschen, die alles aufgegeben hatten, um eine Pilgerfahrt zum Wüstenplaneten zu unternehmen. Stilgar berührte den Sender in seinem Ohr und lauschte den hektischen Berichten über das Geschehen. Er wies den Piloten ein, obwohl man selbst aus der Entfernung sehen konnte, wo der Tumult herrschte.
Schnell näherte sich der Thopter dem großen, segmentierten Wurmleib, der sich ohne erkennbares Ziel durch die Wohnkomplexe wälzte und sie zerquetschte. Der Fremen-Pilot starrte so erstaunt nach unten, dass er verzögert auf einen plötzlichen Fallwind reagierte und der Thopter heftig erzitterte, bevor er die Kontrolle zurückerlangte und ihn wieder ausbalancierte. Der zweite Fedaykin sprach reflexartig ein Gebet und fügte dann hinzu: »Es ist der Geist Muad'dibs! Er hat die Gestalt des Shai-Hulud angenommen und ist zurückgekehrt, um sich an uns zu rächen.«
Als Stilgar an seine frühere Wüstenbegegnung mit einem Wurm zurückdachte, bei der es ihm vorgekommen war, als hätte Paul der Kreatur vielleicht tatsächlich innegewohnt, verspürte er selbst einen Anflug abergläubischer Angst. Trotzdem gab er seiner Antwort einen tadelnden Tonfall. »Warum sollte Muad'dib auf uns wütend sein? Wir sind sein Volk, das seine Befehle befolgt hat.«
Der andere Wurm hatte nicht versucht, ihm etwas anzutun.
Dennoch wusste Stilgar, dass die ehrfürchtigen Menschen dort unten sich ihre eigenen Geschichten ausdenken würden. Stilgar konnte sich die Rufe der todgeweihten Opfer gut vorstellen, währen der Koloss sich ihnen näherte: »Der Geist Muad'dibs! Der Geist Muad'dibs!« Jene, die der außer Kontrolle geratene Wurm verschlang, würden vom Qizarat als Märtyrer gefeiert werden.
Obwohl er nicht verstand, was diesen Sandwurm antrieb, wusste er, wie er ihn aufhalten konnte. Stilgar griff hinter sich. »Gib mir das Fremkit.« Er öffnete es und legte die Erste-Hilfe-Ausrüstung, den Parakompass, den Klopfer und das Destillzelt beiseite. Er brauchte nur die Haken, die Führungsstangen, die Klammern und die Seile.
Er wandte sich mit lauter Stimme an den Piloten, um das ungewöhnlich starke Brummen der Flügel zu übertönen. Irgendetwas stimmte offenbar nicht mit der Lärmabdichtung und den Feuchtigkeitssiegeln der Kabine. »Setz mich so nahe wie möglich ab. Ich muss auf seinen Rücken springen.«
Der Pilot war verblüfft, aber er war ein Fremen und Fedaykin. »Die Vibrationen unserer Triebwerke werden das Geschöpf mit Sicherheit stören, Stil. Das Risiko ist groß.«
»Unser Leben liegt in der Hand Shai-Huluds.«
Das hier war etwas ganz anderes, als in der offenen Wüste einen Wurm zu rufen, was Stilgar schon zahllose Male getan hatte. Ein Mann allein in den Dünen konnte Vorbereitungen treffen. Er konnte an der richtigen Stelle einen Klopfer aufstellen, er konnte die Annäherung des Wurms anhand der Wellen im Sand verfolgen, er wusste, wo das Geschöpf zum Vorschein kommen würde, und konnte genau im richtigen Moment handeln.
Aber dieser Wurm war bereits über der Erde und höchst erregt. Der kleinste Fehltritt würde Stilgar in seinen Schlund stürzen lassen.
Er öffnete die Luke des Thopters, und unvermittelt drang das laute Brüllen des Motors zu ihnen herein. Wütende Winde rauschten an ihnen vorbei und trugen den entfernten Lärm von Panik und Zerstörung an ihre Ohren. Stilgar befestigte sein Werkzeug dicht am Körper, wo er leicht herankam. In jeder Hand hielt er einen Kletterhaken, deren Teleskopenden er nun zu voller Länge ausfuhr. Er würde sich an dem Wurm festkrallen müssen, bevor er die Klammern hervorholen und das Seil verankern konnte.
»Ich bin so weit.«
Der Pilot ließ den Thopter sinken, und Stilgar machte sich bereit, aus der Luke zu springen. Er wusste, dass die gekrümmten Ringsegmente ihm wenig Halt bieten würden, sobald er auf dem Koloss gelandet war.
Im letzten Moment, kurz bevor er springen konnte, warf sich der Sandwurm als Reaktion auf die Vibrationen und den Lärm der Ornithopter-Flügel herum. Es drehte seinen Schlangenhals und reckte ihn der Flugmaschine entgegen.
Mit einem Schrei brach der Pilot das Manöver ab und setzte die Schubdüsen ein, um den Thopter steigen zu lassen. Stilgar hielt sich an der offenen Luke fest, um nicht hinausgeschleudert zu werden. Der Wurm hob sich weiter dem störenden Pulsieren und dem Lärm entgegen und erreichte nur wenige Meter unterhalb des fliehenden Thopters den höchstmöglichen Punkt. Der Gestank seines Gewürzatems quoll aus dem tunnelartigen Schlund hervor, als das Monster einen bangen Moment lang bewegungslos verharrte und sich dann zurückzog.
Stilgar erkannte seine Chance – und sprang. Er fiel und fiel, während der Wurm unter ihm zu Boden ging. Die zusätzlichen paar Sekunden gaben ihm Zeit, die Arme auszubreiten und mit den Haken zu zielen. Er prallte hart auf den Rücken des Wurms und rutschte langsam an der zernarbten Oberfläche hinunter, rollte von einem Ringsegment zum nächsten und schlug auf der Suche nach Halt mit den langen, flexiblen Haken um sich. Schließlich verfing sich das spitze Ende eines Hakens in einem Spalt, und Stilgar hielt sich mit nur einer Hand fest. Er schwang den anderen Arm empor und platzierte den zweiten Haken zwischen den Ringen.
Ohne innezuhalten, band er sich fest, setzte die Klammer an und spannte sie, um das rohe, empfindliche Fleisch freizulegen. Normalerweise hätten ihm bei diesem Vorgang weitere Fremen geholfen, indem sie weitere Klammern und Haken befestigten, doch diesmal war Stilgar allein.
Über ihm schwebte der Thopter außer Reichweite.
Stilgar ließ die Klammer, wo sie war, und kletterte zum nächsten Ring hinauf. Glücklicherweise hatte er es nicht weit, weil er in der Nähe des Kopfes gelandet war. Währenddessen setzte das Geschöpf den Amoklauf fort, und nur das Seil verhinderte, dass Stilgar in den Tod stürzte.
Als er auf dem Kopf angelangt war, spannte er die nächste Klammer noch weiter auf und nahm seine Führungsstange zur Hand. Er stach sie in den Wurm und brüllte, während er versuchte, ihn zu wenden. »Haiiiii-yoh!« Er konnte nicht davon ausgehen, dass dieses Tier schon einmal geritten worden war, dass es jemals einen Steuerruf gehört hatte. Der Sandwurm wehrte sich wie ein wahnsinniger Bulle und konzentrierte sich nun auf ihn statt auf die Kakophonie verlockender Geräusche aus den Randbereichen der Stadt.
Das Tier bockte und wand sich, doch Stilgar blieb hartnäckig und brachte ihm Schmerzen bei, bis es schließlich wendete und den Rückzug antrat. Vor ihnen ragte der geborstene Schildwall auf, in dem nur ein schmaler Spalt Zugang zur Sicherheit der Wüste bot. Er trieb das Geschöpf zu größerem Tempo an, und es grub sich durch seine eigene Spur der Zerstörung, als spürte es die trockenen Dünen, die dahinter lagen. Rotbraune Felswände ragten zu beiden Seiten auf, und Stilgar hielt sich weiter fest. Wenn sich der Wurm im falschen Moment herumwarf, würde sein Reiter abgeworfen oder an den Felsen zerschmettert werden.
Das Geschöpf schoss durch die durchbrochene Qanat-Barriere und zuckte, als es sich über den Streifen aus feuchtem Sand schlängelte. Stilgar blickte nach unten und sah, dass der Qanat zertrümmert und das Wasser in der Wüste versickert war. Aus dieser Höhe konnte er nicht erkennen, ob dieser Wurm oder etwas anderes für die ursprüngliche Zerstörung der Sperre verantwortlich war.
Erschöpft von der Zerstörung, die er angerichtet hatte, grub sich der Wurm dem trockenen Becken entgegen. Stilgar bereitete sich auf einen gefährlichen Absprung vor. Shai-Hulud sei Dank hatte er so etwas schon viele Male getan – und so rutschte er am Wurm hinunter und landete geschickt auf den Füßen im Sand, um sofort die Knie anzuziehen und sich abzurollen.
Nachdem der Wurm in der Ferne verschwunden war, auf der Flucht aus den bewohnten Gebieten, kam Stilgar wieder auf die Beine und klopfte sich den Sand vom Destillanzug. Auf dem Weg zurück in die Stadt wurde ihm klar, dass diese Prüfung in gewisser Weise auch beglückend gewesen war: Von all den Millionen in Arrakeen herumwimmelnden Menschen wusste nur eine Handvoll, wie man einen wilden Wurm ritt.
Nach viel zu langer Zeit verspürte Stilgar wieder die Erregung, ein wahrer Fremen zu sein.